„Kinder brauchen besondere Rechte“ – Interview mit Maria von Welser
Seit ihrer beeindruckenden Dokumentation „Schattenkinder“ ist die Fernsehjournalistin Maria von Welser den Hamburger ARCHEN verbunden. Sie gab uns die große Ehre eines Interviews zu ihrem Weg mit der ARCHE und zur heutigen Situation von Armut bedrohter Kinder in Deutschland. Das Gespräch führte unser Vorstandsmitglied Sibylle von Nerée.
Liebe Frau von Welser, Sie sind nun schon seit Jahren an der Seite der Hamburger ARCHE, haben sogar ein Buch über drei Kinder aus der ARCHE geschrieben, um die Kinderarmut in Deutschland zu beschreiben. Wie kam der Kontakt von Ihnen zur ARCHE zustande?
Das ist jetzt genau 20 Jahre her. Ich kam damals vom ZDF aus London zur ARD/NDR nach Hamburg. Dass London keine reiche Stadt ist, hat sich mir dort nach drei Jahren sehr wohl erschlossen. Hamburg dachte ich: diese wunderbaren Villen, der Hafen, alles sehr vermögend. Aber dann: 2005 verhungert ein Kind. Isst vor Not seine eigenen Haare – und niemand bemerkt etwas. Der Fall der kleinen Jessica löst über die Hansestadt hinaus Entsetzen aus. Wir haben im NDR sofort berichtet, Teams hingeschickt, und ich bin, aus tiefster Seele Journalistin, auch selbst nach Jenfeld gefahren. Fassungslos. Ich entdecke die ARCHE, wo täglich damals schon 60 Kinder für ein Mittagessen in Schlange stehen. Wir drehen eine Reportage über Kinderarmut in Hamburg, in Deutschland. Wo Kinder noch nie in ihrem Leben den Hafen gesehen haben und Tag für Tag ohne Frühstück in die Schule gehen.
Daraus hervorgegangen ist 2007 die so beeindruckende NDR-Dokumentation „Schattenkinder“ über die Arbeit der ARCHE im damals einzigen Hamburger Standort Jenfeld. Was ist seitdem für die von Armut bedrohten Kinder geschehen?
Ich habe mit Tobias Lucht telefoniert. Er leitet seit nun diesen 20 Jahren die ARCHE, und er gesteht: Es ist schlimmer geworden, mit dem Hunger der Kinder, mit der Armut. Jedes fünfte Kind ist in diesem Land von Armut bedroht. So viele waren es noch nie.
Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese so negative Entwicklung für Kinder der Brennpunktgebiete in Hamburg?
Da steigt vor allem bei Alleinerziehenden, und das sind meistens Mütter, das Armutsrisiko ihrer Kinder. Das Geld ist immer knapp. Kinder in Armut getrauen sich nicht, Freunde nach Hause einzuladen. Weil die Wohnung zu klein ist. Sie wenden sich verschämt ab, wenn die anderen Kinder von Urlaubsreisen erzählen. Sie können nicht ins Schwimmbad, nicht mit ins Kino. Weil ihnen die Mutter die sieben Euro nicht geben kann. “Das Haushaltsgeld ist alle“, gesteht sie, und jeder von uns ahnt, welchen Kummer ihr das macht.
Man darf nicht übersehen, dass der Anstieg der Armutsquote in Deutschland auch mit der hohen Zuwanderung von Minderjährigen zusammenhängt. Sie leben als Flüchtlinge eben auch unter der Armutsgrenze.
Wo sehen Sie Lösungswege hin zu mehr Gerechtigkeit für diese Kinder?
Viele Kinder aus Brennpunktgebieten können von ihren Eltern kaum unterstützt werden, wenn es um die Schulaufgaben, das Lernen und die deutsche Sprache geht. Ganztagsschulen sind für diese Kinder eine Hilfe, um sie allumfänglich zu begleiten. Allerdings müssten die Lehrer mit viel Elan dabei sein, die Ganztagsschule sinnvoll zu gestalten und damit die Kinder in eine gute Zukunft zu führen. Sind die Kinder täglich lange gut betreut, können die Mütter in ein Arbeitsverhältnis eintreten und zu ihrem Unterhalt selbstbewusst beitragen.
Ich selbst war für meine Kinder eine alleinerziehende Mutter. Hätte es damals nicht eine Ganztagsschule in unserer Nähe gegeben, wäre meine volle Berufstätigkeit zur Sicherung meiner Familie kaum möglich gewesen.
Seit 30 Jahren wird sich darum bemüht aber auch gestritten, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Wie kann das eigentlich sein? Was würde sich für die Kinder zum Positiven verändern?
Wir sind uns wohl einig, Kinder haben Rechte. Eigene Rechte, Rechte, die nicht aus den Rechten der Eltern abgeleitet sind. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat das klar formuliert. Nur bei uns in Deutschland sind die Kinderrechte weder im juristischen noch im politischen Bewusstsein deutlich verankert. Nicht so, wie die Tiere und die Umwelt, die klar vom Grundgesetz geschützt werden. Ich fasse das jetzt mal provokant zusammen: Tiere werden vom Grundgesetz geschützt, Kinder nicht. Da wird argumentiert: Gilt die Verfassung nicht schon längst für alle Kinder? Greift man hier in die Selbstbestimmung der Eltern ein? UNICEF Deutschland spricht sich zusammen mit allen Kinderorganisationen, dafür aus, die Kinderrechte, genauso wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention vereinbart worden sind, auch in die deutsche Verfassung hineinzuschreiben. So dass es für kein Gericht, kein Parlament, keine Organisation, die mit Kindern arbeitet und auch keine Privatperson einen Zweifel gibt, dass diese Rechte in Deutschland gelten. Kinder sind eben „keine kleinen“ Erwachsenen. Sie sind eigene Persönlichkeiten und brauchen besondere Rechte und besonderen Schutz. Und: Sie müssen angehört werden in den Angelegenheiten, die sie betreffen.
Ein Kindergrundrecht hätte die Kraft, den Skandal der Kinderarmut deutlich zu benennen. „Kinder sind unsere Zukunft“, heißt es ja in unzähligen Reden. Darum müssen die Kinderrechte auch in das Grundgesetz. Als Fundament, auf dem gute Kinderpolitik gedeihen kann.
Was wünschen Sie sich für die Kinder der ARCHEN in Hamburg?
Ich wünsche mir Ganztagsschulen, die für alle Kinder Standard sein sollten. Ich wünsche den Kindern ein intaktes, positives Elternhaus und dass sie eingebettet sind in einen guten Freundeskreis. Jedes Kind sollte über ein Taschengeld verfügen dürfen, über das es selbst bestimmen kann. Ich wünsche mir für die Kinder auch, dass sie Kleidung tragen können, durch die sie keine Ausgrenzung erfahren.
Den Hamburger ARCHEN wünsche ich engagierte Unternehmer, Stiftungen und Privatpersonen, die die Stimme für diese Kinder erheben und helfen, die Arbeit der ARCHE zu unterstützen.
Ich danke Ihnen, liebe Frau von Welser, für dieses Interview und Ihre Unterstützung der Hamburger ARCHE.